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Für viele geht die Party weiter . . .

Von Kassandra60

Maria hatte mich ja eigentlich schon vorgewarnt; warte nur mal bis zum Wochenende, hatte sie gesagt, da wirst du nur mit dem Kopf schütteln. Sie konnte meine Verwunderung über die vielen jungen Leute in den Lokalitäten der Stadt nicht verstehen und ich solle mich am Samstagabend mal auf was gefasst machen.
Maria ging es Freitagabend nicht gut, die Bandscheibe machte ihr zu schaffen und sie konnte sich kaum bewegen. Aber sie musste ja, es blieb ihr gar nichts anderes übrig. „Kostas kann den Laden nicht alleine schmeißen, das geht nicht“ kommentierte sie meine Feststellung, dass sie zum Arzt und ins Bett gehöre. Aber das ist undenkbar. Die winzige Imbissbude in einer schmalen Gasse von Chios Chora ist ihre einzige Einnahmequelle und die Beiden arbeiten unermüdlich vom frühen Morgen bis in die tiefe Nacht, 6 Tage in der Woche. Und nun konnte sie sich nicht mehr bewegen; mit schmerzverzerrtem Gesicht bückt oder dreht sie sich, um Kostas zur Hand gehen zu können. Sie sind ein eingespieltes Team, doch heute ging alles ganz, ganz langsam.
Leute wie Maria und Kosta gibt es sehr viele hier, die schuften und schuften und ihre paar „Kröten“ ins Geschäft stecken. Aber es gibt auch die anderen, die, die noch nie gespart hätten und auch heute nicht sparen würden. Sie machen Party, einfach immer weiter Party, schimpft Maria, während sie sich mühsam am Spülbecken festhält. Sie ist wütend, traurig, resigniert. Du wirst es noch sehen, warte mal ab, Samstagabend wirst du dich noch wundern. Samstag, Samstag ist der einzige Tag, an dem Maria und Kostas ihren Laden geschlossen haben. Samstag ist der Tag, an dem man sich um die Kinder kümmern, waschen und putzen muss. Aber sie lassen sich ihre Sorgen nicht anmerken, lächeln die Kunden an, scherzen mit den Kindern, die ihre Pitten oder Souvlaki abholen und sind immer guter Dinge. Ihre Kunden sind fast ausschließlich Griechen aus der näheren Umgebung – ach ja, und wir natürlich.
Mit affenartiger Geschwindigkeit saust ein chromblitzender Sportwagen mit ohrenbetäubender Musik vorbei und Kostas brüllt einen fürchterlichen Fluch hinter dem Fahrer her. Den aber hier abzudrucken, da weigert sich meine Tastatur. Der eine oder andere von euch wird eh wissen, was er hinter dem Raser her gebrüllt hat. „Das ist es, was ich meine“ sagt Maria kleinlaut, „sie spielen die dicken Maxe, hängen nächtelang in den Szenecafes und Bars ab, schmeißen mit dem Geld nur so um sich und haben nichts, aber auch gar nichts begriffen.“ Das seien auch diejenigen, die sich ganz provokativ hinter der Syriza versteckten, die ihnen glauben machen will, dass man geliehenes Geld nicht zurückzahlen müsse. Dicke Sportwagen fahren und Motorräder, die teurer sind als Autos, unnütz durch die Gegend brettern, immer alles aufgedreht. Die Benzinpreise? Ach, selbst von den Spritpreisen lassen sie sich nicht bremsen.
Wir können den Zorn von Maria und Kostas gut verstehen, so wie ihnen geht es vielen hier auf Chios.
Die Männer, die alten, die sitzen in den Kafenia, trinken meistens nichts oder nur Wasser, spielen Tavli und diskutieren sich die Köpfe heiß. Aber die Frauen, die armen, die alten, die sitzen vergrämt zu Hause. Die sieht man nicht, die schreien auch nicht. Manchmal sehen wir die alte Sophia, die von ihrem Fenster aus auf die Straße schaut. Zähne hat sie wohl schon lange nicht mehr im Mund, aber immer wenn wir vorbeikommen, lächelt sie uns an „Jassou, jassou pädia mou“. Auch Sofia sei sehr arm, hatte uns Maria erzählt und ich, ich könnte einfach nur heulen. Hat diese alte Frau nicht ihr Leben lang geschuftet? Erst den Weltkrieg mitgemacht und dann den Bürgerkrieg und was hat sie während der Junta erlebt? Für sieben Kinder gesorgt, den Mann verloren und ihre Enkel und Urenkel?
Die machen Party, die tun so, als müsse man geliehenes Geld nicht zurückzahlen; die brausen mit ihren schweren Maschinen vor Jaja’s kleinem Fenster herum.
Ach ja, Samstagnacht – Samstagnacht war wie immer die ganz große Party hier in Chios. Als wir gegen 23 Uhr noch einmal durch den Ort gingen, da waren sämtliche Lokalitäten der Hafenmeile so brechend voll, dass man nur mit Voranmeldung dort reinkam. Sie saßen und standen bis hin zur Straße, Bars, Szenecafes und Restaurants, wo sich die Tische bogen. Wir fanden es einfach nur grotesk – ein Schlag ins Gesicht eines jeden mühsam schuftenden Arbeiters.
Da wir am anderen Ende des Hafens am Rande des Kastro wohnen, bekamen wir es auch die ganze Nacht lang mit und erst als am Morgen die Glocken der vielen Kirchen erklangen, da machten sich die letzten auf den Heimweg – und wieder dröhnten die Motoren durch die schmalen Gassen. Wie gut, dass unsere Balkontüre doppelt verglast ist und nicht zu viel Lärm hindurch dringt.

Eigentlich wollte ich ja lieber Reiseberichte schreiben, doch vor dem, was mir hier begegnet, kann und will ich einfach nicht die Augen verschließen. Ich kann zwar nicht ihre Probleme lösen, aber ich will sie als Freund nicht alleine lassen.




Geschrieben 20.05.2012, Geändert 20.05.2012, 3248 x gelesen.

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Kommentare zu diesem Artikel

Kommentar von Kassandra60 vom 19.07.2012 05:56:59

Nein, mit dieser Gesinnung wurden sie ganz sicher nicht geboren. Jeder ist bis zu einem gewissen Maße das Produkt seiner Erziehung und der Gesellschaft, in der er aufgewachsen ist und dazu tragen Eltern natürlich ein gerüttelt Maß an Verantwortung.
Diese Art Umsetzung des “Alles-für-die-Kinder-Triebes “ ist natürlich die denkbar schlechteste Voraussetzung, Kindern das Rüstzeug zu lebenstüchtigen und verantwortungsvollen, vor allem auch eigenverantwortungsvollen Menschen mitzugeben. Es ist halt alles übertrieben worden und es sieht nicht so aus, als würden Eltern heute schlauer und das nicht nur in GR.
Es ist noch gar nicht so lange her, da kannten Kinder kein Spielen, da mussten sie schon vor der Schule schuften und nach der Schule ging es dann weiter. Süßigkeiten? Spielzeug im Überfluss oder gar Geld? Fehlanzeige. Kinder wurden von ihren Eltern und der Gesellschaft ausgebeutet. Aber dann kam die Zeit, in der man glaubte, seinen Nachkommen alles in den Hintern pusten zu müssen. Klar, in GR verstärkter noch als in D. Es hat sich alles quasi ins krasse Gegenteil verwandelt.
Sind früher Kinder (sicher auch aus finanzieller Not heraus) ausgebeutet worden, so glaubt man heute vielfach, dass man ihnen Gutes tut, wenn man ihnen alles in den Schoß legt, alles mundgerecht serviert und und und – ich will hier keine Romane schreiben, will es eigentlich nur auf den Punkt bringen: Alles in der Welt ist Ursache und Wirkung
Ist nicht meine Erkenntnis, das stammt – glaube ich – aus dem Buddhismus. Danach ist auch das, was in GR (und überall auf der Welt) derzeit abgeht, eigentlich das, wozu vor Jahrzehnten schon die Wurzeln gelegt wurden.


Kommentar von fontane vom 21.05.2012 11:16:40

Danke für diesen eindrucksvollen Beitrag, der die sozialen Dimensionen so plastisch schildert ! Die "hart Arbeitenden" ( P. Markaris), die von dem künstlichen Boom um den "billigen" Euro nie etwas hatten, bezahlen die Zeche.