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Der Ölbaum

Von trampabout

Ich bin ein uralter Olivenbaum, der zwischen Leonidion und Plaka in einem kleinen, schon recht verwilderten Hain wurzelt. Meine Zweige langen fast bis zum Straßenrand. Wie alt ich bin, das habe ich vergessen. Doch ich habe gehört, dass meine Spezies sechs- bis siebenhundert Jahre alt werden kann. Ganz so alt bin ich sicher nicht. Jedenfalls bin ich kein gewöhnliches Gewächs. Ich habe als Ölbaum eine mystische, eine heilige und eine kulturhistorische Bedeutung. Und darauf bin ich stolz.

Nach der Sage entstand mein Urahn bei einem Wettstreit der Pallas Athene und des Poseidon um die Stadt Athen. Wer von beiden Gottheiten das nützlichere hervorbringe, dem sollte Athen schließlich gehören. Poseidon stieß seinen Dreizack in die Erde und schlug eine Quelle. Athene brachte einen Ölbaum. In der Bibel werde ich über einhundertfünfzig Mal erwähnt.

Aber ich wollte ja mehr von mir sprechen. So schaut mich an! Hab’ ich nicht ein markantes und listig-lustiges Gesicht? Auch wenn ich schon lange silbrig grau bin. Sicher, meine Haut ist aufgeplatzt und mit tausend Narben versehen. Mein Körper ist zerklüftet, verkrüppelt und an einigen Stellen schon fast versteinert. Und mancher Sturm hat schon versucht, mich mit Gewalt zu brechen. Aber wie meine jungen Sprösslinge, die immergrünen Blätter und die kräftigen Früchte zeigen, stehe ich noch voll im Saft.

Ihr könnt sicher sein, an dem markanten Platz, den ich hier einnehme, sind schon unzählige Menschen vorbeigekommen. Ich könnte Romane schreiben. Früher gab es noch keine bequeme Landverbindung. Leonidion war nur über See zu erreichen. Jeder der zum Hafen Plaka wollte, musste bei mir passieren. Die Geschichte mit Dionysos, der nicht weit von hier in einem Kasten als Strandgut angeschwemmt worden sein soll, war bestimmt noch vor meiner Zeit. Aber an die Seeräuber, die ihre Beute nach Leonidion geschleppt haben, kann ich mich noch gut erinnern. Genauso an die wohlhabenden "Kapitäne", die mit Russland und dem Balkan Handel getrieben haben. Damals wurden in der Stadt die prächtigen Häuser gebaut. Zu allen Zeiten sind hier gehetzte Freiheitskämpfer vorbei gezogen und manchmal haben sie ganz erschöpft unter meinem Schirm Rast gemacht. Schäfer haben sich an mich gelehnt und ihr karges Mahl eingenommen, während die Schäflein den ganzen Hain besetzten. Mancher Wanderer hat in meinem Schatten geruht und vielleicht sogar ein wenig geträumt. Die Fischer und Gemüsebauern kannte und kenne ich alle persönlich. Heute gibt es leider keine Esel und keinen Karren mehr - Autos, Pick-Ups, Lastwagen, Busse, Motorräder und Wohnmobile flitzen vorbei. Hin und Her mit viel Lärm und Gestank. Wie schön war es doch früher!

Ach, wenn ich mich so nach der Vergangenheit sehne, dann könnte es gut sein, dass ich so langsam doch zu alt werde! Der nächsten Straßenverbreiterung stehe ich ohnehin im Wege!

Geschrieben 06.11.2002, Geändert 06.11.2002, 2140 x gelesen.

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